Liebe Gemeinde,
mir begegnet eine Frau. Und sie erzählt mir etwas. Und dann gebraucht sie einen Begriff, den ich nicht kannte. Sie sagt: „Ich nehme mir ,Quality Time!‘“ Ich staune und starre dabei mit großen Augen und einem nicht sehr intelligenten Gesichtsausdruck die Frau an, die mir den Begriff gerade entgegengeworfen hat.
Sie wiederholt: „Dann nehme ich mir meine Quality Time!“
Ich nicke und versuche, nicht so verwirrt auszusehen.
„Natürlich“, sage ich, „Quality Time ist wichtig.“ Und dabei denke ich an die Bonbons, die meine Oma immer gekauft hat. Die so an den Zähnen geklebt haben und in ganz buntem Glanzpapier eingepackt waren. Die habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ich meine mich aber zu erinnern, dass sie anders hießen. „Quality Street“ vielleicht? Kann das sein?
Ich versuche aus dem Kontext zu erschließen, was die Frau mit „Quality Time“ meint. Es scheint mehr zu sein als einfach nur eine gute Zeit.
Mein zweiter Gedanke hat nichts mit Bonbons zu tun. Ich denke wörtlich über den Begriff nach. Ich übersetze ihn mit „qualifizierter Zeit“. Eine Zeit, die bestimmt ist, durch eine Stimmung oder ein Ereignis. Mir fällt dazu eine Lektion ein, die ich in Heidelberg in einer Vorlesung über den Brief des Apostels Paulus an die Galater bei Prof. Gerd Theißen gelernt habe. Er hat damals gesagt, dass in diesem Brief die beste Weihnachtsgeschichte stehen würde. Das war für mich genauso irritierend wie das Gespräch über die „Quality Time“. Es gibt keine Weihnachtsgeschichte im Galaterbrief. Oder doch?
In Kapitel 4 schreibt der Apostel Paulus:
„4Aber als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.
Er wurde von einer Frau geboren und war dem Gesetz unterstellt.
Auf diese Weise wollte Gott uns als seine Kinder annehmen.“
Gerd Theißen hat diesen Text gemeint. Und er hat gelehrt, dass die Zeit nicht erfüllt war, weil alle Voraussetzungen eingetroffen oder alle Bedingungen erfüllt waren.
Die Zeit wurde von Gott bestimmt und war deshalb erfüllt. Ich kann das im Kleinen nachempfinden. Immer dann, wenn ich mich aufraffe, etwas zu tun, was ich vielleicht nicht gerne tue. Wenn ich mich aufmache, dann kommt die Zeit nie.
Ich muss selbst entscheiden, dass ich jetzt vom Schreibtisch aufstehe und rausgehe und mich ein bisschen bewege. Die Zeit ist nicht da, weil das Wetter gut ist. Sie ist da, weil ich das entscheide.
So ist Weihnachten auch nicht zufällig gekommen, sondern weil Gott das wollte. Das verstehe ich also unter einer „qualifizierten Zeit“. Paulus drückt damit aus: Gott hat die Zeit in der Hand und er teilt sie zu. Gott nimmt uns als seine Kinder an, weil er das will und wann er das will. Und darum können wir mit unseren Entscheidungen die richtige Zeit auch nicht verpassen. Gott entscheidet darüber. Das finde ich tröstlich.
Ich merke, dass ich den Fortgang des Gesprächs mit der Frau verpasst habe. Ich bin bei dem Begriff „Quality Time“ hängengeblieben. Mir ist nicht klar, ob sie bestimmt, wann diese Zeit für sie ist oder ob bestimmte Dinge eingetreten sein müssen. Aber die Frau stört es nicht, dass ich ein wenig abwesend war. Das Gespräch geht munter weiter. Ich nehme mir jedenfalls vor, am Abend das Orakel der Neuzeit zu fragen, was „Quality Time“ eigentlich ist.
Später sitze ich am PC und frage die künstliche Intelligenz „ChatGPT“, die Quelle der gesammelten Weisheit, und sie antwortet: „Der Begriff ,Quality Time‘ stammt aus dem Englischen und wird verwendet, um eine Zeitperiode zu beschreiben, die bewusst und absichtlich für eine qualitativ hochwertige und bedeutungsvolle Interaktion oder Aktivität genutzt wird.“
Ich bin beeindruckt von der Qualität der Antwort. Man kann das tatsächlich auf Weihnachten beziehen. Es ist eine „qualifizierte Zeit“. Gott nutzt sie, um uns immer wieder zu zeigen, dass er die Zeit erfüllt und uns als seine Kinder angenommen hat. Und wir lassen das geschehen und nehmen das Geschenk einfach an. Wir genießen die geschenkte „Quality Time“.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen eine besinnliche und besonders qualifizierte Weihnachtszeit und einen qualitativ hochwertigen Beginn des neuen Jahres!
Bleiben Sie behütet!
Pfarrer Dr. Paul Metzger